Monday, February 11, 2008

Die Sauren Trauben


Schon als Kind hat mir die Geschichte vom Fuchs und den Trauben gut gefallen. Ich selber hatte das schon einige Male durchlitten. Und selbst als Erwachsener kann ich mich mitunter noch bei einem Hauch sauren Trauben-Verhalten erwischen. Die Geschichte ist so menschlich und so gut getroffen und für jeden von uns annehmbar, weil die handelnden Personen Tiere sind. Verfremdung nennt man diese Technik wohl.


Der Fuchs und die Trauben

Eine Maus und ein Spatz saßen an einem Herbstabend unter einem Weinstock und plauderten miteinander. Auf einmal zirpte der Spatz seiner Freundin zu: "Versteck dich, der Fuchs kommt", und flog rasch hinauf ins Laub.

Der Fuchs schlich sich an den Weinstock heran, seine Blicke hingen sehnsüchtig an den dicken, blauen, überreifen Trauben. Vorsichtig spähte er nach allen Seiten. Dann stützte er sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte kräftig seinen Körper empor und wollte mit dem Mund ein paar Trauben erwischen. Aber sie hingen zu hoch.

Etwas verärgert versuchte er sein Glück noch einmal. Diesmal tat er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte wieder nur ins Leere.

Ein drittes Mal bemühte er sich und sprang aus Leibeskräften. Voller Gier huschte er nach den üppigen Trauben und streckte sich so lange dabei, bis er auf den Rücken kollerte. Nicht ein Blatt hatte sich bewegt.

Der Spatz, der schweigend zugesehen hatte, konnte sich nicht länger beherrschen und zwitscherte belustigt: "Herr Fuchs, Ihr wollt zu hoch hinaus!"

Die Maus äugte aus ihrem Versteck und piepste vorwitzig: "Gib dir keine Mühe, die Trauben bekommst du nie." Und wie ein Pfeil schoß sie in ihr Loch zurück.

Der Fuchs biß die Zähne zusammen, rümpfte die Nase und meinte hochmütig: "Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben." Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück.


Von Äsop Gefunden bei Projekt Gutenberg

2 comments:

Anonymous said...

Lieber Rainer,

diese schöne Geschichte kannte ich noch nicht. JA! Natürlich habe ich mich selbst auch schon bei diesem Verhalten ertappt. Ich kann es aber erkennen, wenn ich so reagiere wie der Fuchs. Vielleicht nicht immer sofort, aber ein paar Stunden oder Tage später.

Aber wieviele Menschen, die Du kennst, reagieren IMMER so?

Ich kenne ganz viele.

Sonnige Grüße
Dori

Ray Gratzner said...

Liebe Dori,

danke für Deine Selbstoffenbarung, jetzt weiß ich, dass ich mit dem Verhalten nicht allein bind, das ist die Last schon einfacher.

Grüße an die Sonnenfrau