Saturday, January 16, 2010

Im Tal II

In dem Dunkel um mich herum erkenne ich nun andere Menschen. Sie scheinen erstrarrt zu sein wie Wachspuppen.

Ich springe auf und greife seine Fackel und laufe umher. Menschen über Menschen, dicht an dicht sind hier, dicht nebeneinander und doch ohne Berührung, als wären sie autistisch.

"So erschrecke dich nicht. Was du hier siehst ist gewollt. Die Menschen sind erstarrt in Trauer. Nichts kann sie bewegen in ihre Leben zurückzukehren, doch hier sind sie sicher, es kommt kein weiterer Schmerz dazu. Es ist dunkel und vermeintlich sicher, bis auf... komm mit!"

Ich folge ihm.

"Da schau!"

Ein älterer Mann erwacht aus der Erstarrung. Der Schmerz und die Trauer scheinen von ihm abzufallen. Er steht auf, aber dann zieht er als Flämmchen hinfort.

"Er ist tot?", frage ich.

"Ja, hier zu erstarren bedeutet doch nicht unsterblich zu sein."

Ich betrachte den Ort an dem der Mann erstarrt gewesen war. Ein Bild scheint dort zu stehen.

"Seine Mama", sagt er ruhig. "Seine Mama. Sein Kummer mit seiner Mutter hat ihn ein Leben lang gefangen. Schau dich um."

Ich blicke mich um und sehe, dass jeder hier Gegenstände mitgebracht hat. Frauen mit Kinderkleidern oder Spielzeug. Viele Männer  mit Mamaphotos, eine ganze Ebene voll gefrorenem Schmerz. Menschen, die an anderen festhalten, bis sie selber das Leben loslassen.

"Ist deine große Liebe auch hier?"

Ich schaue mich um und suche, blicke und werde fündig. Ich rutsche ihr auf Knien näher und komme ihrem Gesicht ganz nah. Sie hat ein Kinderbild vor sich stehen. Ich berühre ihr Gesicht, unendlich vorsichtig und sanft, aber sie erwacht nicht aus ihrer Erstarrung. Eine Träne läuft statt dessen ihr Gesicht herunter und erstarrt.

"Du bist nicht das, was sie sich wünscht, deswegen erreichst du sie nicht. Aber wie du siehst, sie hat die Trauer in ihrem Leben nicht überwinden können, aber du schon, denn du schaffst es, jetzt aus diesem Tal raus und auf zu neuen Ufern deiner Bestimmung zu gehen. Komm."

Ich drehe mich noch einmal zu ihr um und blicke auf die geronnenen Tränen im erstarrten Gesicht der Liebe meines Lebens. Es zerreißt mir das Herz, aber dann sehe ich nicht nur sie, ich sehe Tausende und Abertausende um mich herum, starr und fixiert und jetzt kann ich den Ort verlassen ohne mich umzudrehen.

"Was für Gegenstände hatte ich an meinem Platz?", will ich wissen.

"Egal", sagt er und  ich spüre in mir ein fließendes Gefühl von Vielfalt, das mich erfüllt.

"Wir können wählen Ray, Tag für Tag.  Trauer macht die Aufmerksamkeit schwer und bindet uns an ein Objekt oder eine Person. Akzeptieren wir den Wandel und schauen wir niemals zurück, dann wählen wir inneren Reichtum und Überfluss."


"Was wäre wohl ein Fischer, der seinem ersten Fang nachtrauerte, den er verkauft hat um davon zu leben? Das Meer schenkt ihm den nächsten Fang. Und wenn das Meer sich wandelt, dann wird ihn seine Aufmerksamkeit zu weiterem Überfluss bringen."

5 comments:

Anonymous said...

*tränenwegwisch*

Das hast Du toll geschrieben Ray! *respekt! Da steckt so viel drin! Einen ähnlichen Weg geh ich grad für mich selber! Deswegen wohl die Tränen! :-) *danke fürs erinnern....

Schönes Wochenende Dir
Su

Hexe said...

Ich bin total berührt. Mir fehlen die Worte.

Gabaretha said...

Lieber Rainer,
vielen Dank für diese wundervolle Geschichte, die mich sehr berührt.
Alles Liebe,
besser und besser,
Gaba

Grey Owl Calluna said...

....so hat jeder seine Geschichten....
Wirklich gut, lieber Ray!
Geht ganz schön an´s Herz......
Liebe Grüße
Grey Owl

DasLeben said...

Hallo Rainer!
Bei der Geschichte bekomm ich Gänsehaut.
Ich habe das Gefühl in mir hat sich, mit dieser Geschichte, etwas bestätigt und dafür möchte ich mich bei dir bedanken.

Danke für diese Geschichte!