Sunday, October 10, 2010

Die Schrecken des Glücks



Die Sonne senkte sich über das Land. Dunkelrote Schatten erinnerten ihn daran, wo er sich befand. Es ist so real, dass ich hier sterben kann und doch werde ich hier keine lebende Seele treffen. Er rekapitulierte kurz, warum er gekommen war. Wenn die Macht kam, würde alles ganz schnell gehen. Leben und Sterben, eine Frage entschieden in der Zeit eines Lidschlags.

Diese Welt schien nur aus Orangetönen bestehen. Selbst sein Körper sah aus wie eine Orange. Mechanisch tastete er über seine Haut. Seine Haut fühlte sich wie immer an, glatt, geschmeidig. Hättest du eine Orangenhaut erwartet, meldete sich seine innere Stimme. Bereite dich lieber vor.

Er nickte. Er versenkte sich tief in sein Inneres, während er tief in seinem Inneren das Herannahen der Macht fühlte. Die Macht war noch weit entfernt, aber der Kern seines Seins vibrierte und das rief in ihm alle Zweifel wach. Gedanken hetzten durch seine Aufmerksamkeit. Es ist egal, wenn du heute stirbst. Das Leben hat eh keinen Sinn. Warum bist du hier? Du könntest vor einem Fernseher sitzen und Spaß haben.

Er setzte sich gerade hin und schaltete die Gedanken ab. Die Ruhe kehrte ein und dann die Dunkelheit. Mit knackendem Geräusch schälte sich ein Schemen aus der Nacht und setzte sich zu ihm. Zuerst war sie ein dunkler amorpher Schatten, dessen Ränder waberten, dann festigten sich die Züge, bis schließlich seine Kopie vor ihm saß. Der Gesandte der Macht, der stets in der Erscheinung der eigenen Person auftrat.

"Bist du Jesus?", begann sie das Gespräch.

Er war geschockt, dass er mit sich sprechen sollte. Wach aus diesem Traum auf, murmelte es in ihm.

"Bist du Jesus, dass du denkst, es wäre etwas Besonderes sich selbst hier zu begegnen? Schau dich um. Tausende von Menschen sind tagtäglich in dieser Gegend. Sie suchen in sich nach dem Schlüssel der Macht. Dem Stein der Weisen, der es ihnen ermöglicht dem leben ihren Stempel aufzuzwingen. Ok, du bist auch deswegen gekommen. Habe ich recht?"

Er schaute sich um, aber er sah niemanden. Er lauschte und hörte dann das Murmeln vieler Stimmen. Wünsche die wie Zaubersprüche ausgesprochen wurden. Sehnende gierige Stimmen, die wie Klingen aus der Welt Welten herauszuschneiden suchten. Er konzentrierte sich erneut auf sein Gegenüber.

"Nein du irrst dich. Ich suche die Ohnmacht. Zeig mir bitte meine Ohnmacht. Nur die Macht ist fähig mir meine Ohnmacht zu zeigen und ich bin bereit nie wiederzukehren, als Preis für diese Einsicht." Das Reden lockerte ihn, seine Anspannung verflog. Sein Körper wurde locker.

"Hmm, das kannst du haben umsonst. Du darfst wiederkehren, wann immer du willst. Ich bin für jeden Menschen da, der bereit ist in seinem Inneren den Ort der Macht zu finden. Stehe auf und gehe nach Osten, dort wartet deine Ohnmacht." Die Macht erhob sich leicht, elegant und sagte," du bleibst hinter deinem Potenzial zurück. Sag' mir einen Wunsch und ich erfülle ihn."

Er schüttelte den Kopf. "Ich danke dir, aber Ohnmacht ist alles, was ich begehre. Er stand auf, mühsam und unbeholfen und ging mit klopfendem Herzen in Richtung Osten. Seine Schritte wurden schwerer und mit jedem Schritt veränderte sich sein Körper. Er wurde älter und runzliger. Sein Rücken verbog sich unter einer schweren Last, und sein Atem ging langsam und rasselnd. Im Osten stand sein Grabstein und davor ein frisch geschaufeltes Grab, an dem die Macht stand, mit einem goldenen Spaten. "Jo", spottete die Macht. "Leute wie dich brauchen wir, um selber reich zu werden. Leg' dich hier rein, los."

Entkräftet stürzte er fast in sein Grab, und kaum dass er drin lag, wurde er mit Erde bedeckt. "Das ist das Ende", dachte er. Doch dann wachte er auf in einer grünen Welt an einer Wasserquelle. Um ihn herum war alles lebendig und er fühlte sich voller Lebenskraft und Freude. Ihm gegenüber saß die Ohnmacht. Er wusste sofort, dass sie es war.

"Du hast eine gute Wahl getroffen indem du angesichts der Macht auf alles verzichtetest. Nun gehören die Freuden der Seele dir allein und wonach dein Herz sich sehnt, das wird dich erfüllen. Er schaute sich um, ging auf die Knie vor der Quelle, schöpfte Wasser mit beiden Händen und trank. Mit jedem Schluck löste er sich mehr auf in einem Gefühl von Glückseligkeit. Er wusste, ich werde immer glücklich sein, solange ich machtlos bin.

5 comments:

Anonymous said...

Sehr interessanter Aspekt: Macht als Quelle für das (auch eigene) Unglück. Wünschenswert wäre eine Macht, die sich verantwortungsvoll und zielgerichtet für das Glück aller einsetzt! Ob es das jemals geben wird?
Bonne nuit!
Borelli

Elisabeth said...

Liebster Rainer,
ich bin berührt... von dieser Geschichte, von der Kraft deiner Worte...
Wenn auch Macht nicht gleich Macht ist - wenn ich erkenne, welche Macht meine Gedanken, meine Worte haben, was das auslöst... dann kann ich lernen, bewusster damit umzugehen... verantwortungsvoll... und Gutes bewegen...
Allerliebste Grüße zu dir aus WIen, Elisabeth

Dori said...

Lieber Rainer,

es gibt tatsächlich Menschen, die Angst vor dem Glück haben. Weil sie es wieder verlieren könnten. Aber alles, was wir unbedingt festhalten wollen, verlieren wir sowieso.

Eine schöne Geschichte, danke dafür.

Dori

Anonymous said...

Lieber Ray
ich ziehe meinen Hut...das ist ein ganz gelungene Geschichte voller Weiheit und versteckter Wahrheit....
wir begegnen immer uns selber...auch im Göttlichen...das ist ja auch unser Ursprung.
Liebe Grüsse zentao

Anonymous said...

ohne Dir Deiner Macht bewusst zu sein, ist die Ohn-macht nicht zu ertragen.

Liebe Grüße
Barbara