Saturday, October 13, 2012

Tag der Brücke

Langsam gehe ich entlang der fahlen gelben Wand, die wabert und unterschiedliche hell ist. Ich gehe auf einem rötlichen Untergrund, der nicht fest ist, aber ich gehe dennoch. Vielleicht schwebe ich, vielleicht segle ich - für mich ist es Gehen. Eine Gehen ohne Zeitgefühl. Ein Gehen mit einer Schwere im Innersten, einer Schwere die mir sagt, dass ich verabredet bin.

Es ist nicht mehr weit, das weiß ich, aber ich weiß nicht was ich treffen werde.

Plötzlich ist die Wand zu Ende und ich sehe eine Brücke. Meine Brücke. Der Boden ist wieder ein normaler Boden, sandig, mit kleinen Kieselsteinchen und Menschen gehen vor meiner Brücke auf und ab. Alle Menschen die da flanieren haben eines gemeinsam, sie gehen auf dieser Seite, auf der ich jetzt noch stehe und die die Ankunftsseite genannt wird, wie ich später erfahre.

Ich sehe meine toten Eltern auf und ab gehen. Mal gehen sie Hand in Hand auf und ab, dann wieder allein. Manchmal läuft sie von hinten an ihn heran und stößt ihn, er strauchelt und dreht sich wütend um. Keiner von Ihnen beachtet mich. Ich stelle mich neben sie, berühre sie mit meiner Hand und erlebe einen Moment aufwallender schmerzhafter Sehnsucht. Zu verlockend der Gedanke nach all den Jahren einen Moment mit meiner Mama zu reden oder meinem alten Herrn.

Nein, sie beachten mich nicht. Sie kämpfen miteinander, sie lieben sich, sie sind allein, eingeschlossen in etwas, also ob sie eine alte DVD-Abspielung wären, wenn nur nicht eine Szene nach der anderen immer wieder neu wäre - so als lebten sie wirklich hier und jetzt.

Meine Jugendliebe geht an mir vorbei. Mir geht das Herz auf, all ihre Reize sind heller, frischer, lebendiger als ich es je erlebt habe. Noch mehr schmerzhafte Aufwallungen ergreifen mich. Es ist als ob mich eine Kette unerfüllter Sehnsüchte ergreift.

Da explodiert aus der Mitte meines Seins, da trifft mich aus der Schwere meines Inneren der Ruf der Verabredung. Die Brücke, gerade noch hatte ich sie gesehen und nun erkenne ich sie nicht mehr.  Ich lasse innerlich los, richte mich auf und sehe sie wieder die Brücke, meine Brücke.

Langsam gehe ich über den Sand, ich spüre meine Beine nicht mehr, fühle keine Arme, keinen Körper, fühle kein Leben und kein Sein und kann nicht mal mehr angstvoll an mir runterschauen, was diese Brücke aus mir macht.

Ich fahre über die Brücke wie ein Geist durch eine hohle Schüssel. Obwohl ich nichts spüre, erzittert die Brücke rhytmisch - da höre ich ein Rufen. Melodisch, flehend, die Stimme eines kleinen Kindes in höchster Not. Ich halte an und drehe mich um. In einiger Entfernung sehe ich den kleinen Ray auf Knieen. Er weint.

"Was willst Du?". Ich antworte mir nicht. Ich weine weiter.

Ich weiß nicht was ich tun kann, doch ich versuche mich an den Rainer weinend auf der Brücke zu erinnern und dann fällt es mir ein. Eine Erinnerung kehrt zurück, die mich wie einen Faustschlag in der Mitte trifft. Ja, vor Jahren war ich schon einmal hier, aber ich kam nicht über die Brücke, mir fehlte die Kraft, meine Trauer, mein persönliches Unglück, all dass ließ mich straucheln. In meiner Erinnerung nehme ich den kleinen Rainer in den Arm. Ich weiß dass er stärker ist, als er dort knieend glaubt. "Komm, wir schaffen es gemeinsam."
Er springt auf und ich fühle mich vollständig. Er frischt gehe ich weiter über diese Brücke, ein Ort ohne Sonne, ohne Zeit, Zukunft oder Vergangenheit. Mir begegnen viele angstvolle Bilder, mehr als einmal scheine ich gewiss zu wissen, wenn ich hier weitergehe, wird es mein sicherer Tod.

Ich weiß nicht wie lange ich durch mein persönliches Tal des Schreckens ging, aber ich kam am anderen Ende an. Jenseits der gelben Mauer war alles scheinbar genauso wie bis her. Bis ich an einen kleinen Teich kam und mich in der Teichoberfläche spiegelte. Ich war lädiert, verletzt, geschunden und überrascht. Denn das Bild in der Wasseroberfläche stimmte nicht mit meiner Wahrnehmung von mir überein.

Ich hörte ein meckerndes Lachen und drehte mich um.

"Willkommen Ray, hast Du es endlich geschaft?" Mir blickte ein freundlicher Mann entgegen, einfach gekleidet, mit Sandalen. Unsere Wahrnehmung lernen wir vom ersten Tag unseres Lebens zu betrügen. Wir wollen uns niemals so sehen, wie wir sind. Doch hier, jenseits der Brücke, gibt es nichts, was dich betrügen wird, du siehst dich im Wasser genauso, wie du bist. Und es wurde Zeit, dass Du kamst. Wir sammeln ein Leben lang Verletzung um Verletzung an, es tobt ein Krieg da draußen. Hier wirst Du wieder heil werden aber komm erstmal mit." Er winkte mir zu und drehte sich um.
Ich warf einen letzten Blick auf die Brücke und meinte am anderen Ende noch Menschen erkennen zu können.
"Komm' sagte er. "Diese Welt dort liegt hinter dir."

In dem Moment brach die Brücke ein.



4 comments:

Angelika said...

Ja lieber Rainer, diese Gedanken, diesen Weg bin ich auch schon gegangen, gefangen in den Gedanken der Vergangenheit.

Hab einen schönen Sonntag und sei ♥ lich gegrüßt
Angelika

Lindi Pekel said...

Die vergangen heit, darin verliert man sich Häufig...
Oft denkt man nach das man alles anders machen würde...

Ray Gratzner said...

Liebe Angelika,

darum zu wissen, dass es anderen ebenso ergeht, ist wohltuend.

Liebe Grüße Rainer

Ray Gratzner said...

Liebe Lindi,

ja, hätte ich etwas anders machen können in der Vergangenheit - sicher ist das ein Klassiker :-))

Liebe Grüße nach Bremen
Rainer